FMG - Förderkreis für Mythologisches Gedankengut e.V.

Edit Content

Veranstaltung:

Antike Mysterien - Im Schatten der Säulen

Dr. Thomas Steckenreiter

Aus längst vergangenen Zeiten rufen uns die Alten aus der Antike die Seinslehre »Erkenne Dich selbst, und Du wirst die Götter erkennen« herüber. Jenes »Gnothi seauton« – »Erkenne Dich selbst« – soll auf dem Apollo-Tempel zu Delphi gestanden haben. Der Nachsatz »und Du wirst die Götter erkennen« ist vermutlich das Geheimnis, welches die Eingeweihten hinzufügten.

Die alten Weisen aus der Antike hinterließen uns die Mythen und die Riten, in denen die Reise des Helden von seinem Aufbruch über seinen Weg zu Selbsterkenntnis bis zur tiefsten Einweihung beschrieben wird. Die Unsterblichkeit der Seele, die Seelenwanderung und die Erkenntnis Gottes sind feste Bestandteile der alten Überlieferungen, die meist eingebettet waren in die Einweihungsriten, von denen uns die Alten in ihren Werken Zeugnis ablegen. Diese Riten und Mysterien beschreiben ein verborgenes Dasein der Menschheit.

Wir wollen auf Spurensuche gehen und die Schlüsselelemente der Initiationsriten der Antike herausarbeiten und zeigen, wie Suchende in vergangenen Zeiten ihren geistigen Horizont erweiterten. Am 29.12.1999 fand in Frankfurt die Aufführung des Mysterienspiels »Die Fackel von Prometheus – Stationen des himmlischen Feuers« von Gabriele Quinque statt, eine außerordentliche Darbietung der Horusbühne zum Anlass des Jahrtausendwechsels. Nach zweitausend Jahren Christentum sollte aufgezeigt werden, was aus dem Feuer des göttlichen Geistes geworden ist, das Prometheus einst am Beginn des menschlichen Daseins laut griechischer Legende vom Himmel herabgeholt hatte.

Es war die Fackel des ewigen Feuers, welche er auf die Erde brachte und damit das himmlische Begehren in der Brust des Menschen entzündete. Der Mensch erkannte seine Abspaltung von Gott und begann, wieder nach dem Einen zu streben. Alles wird möglich für den, der dieses unsterbliche Feuer besitzt. Hören wir Prometheus über jenes Feuer sprechen:

Mit prasselnder Inbrunst reißt das Feuer die Türen der Trägheit aus den Angeln, bringt feste Metalle zum Fließen und befreit das Gold aus dem Würgegriff des Gesteins.

Rot zuckend verbrennt es die Lüge!

Feuer kommt aus der Einheit und strebt zu ihr zurück! Es handelt sich um keine wahre Religion! – herrscht nicht ein feuriger Gott von Aeon zu Aeon.

So, wie heftig geschürte Opferflammen nach oben lodern, so streckt der anrufende Priester seine Arme hinauf. Und seine Seele beginnt zu brennen! Dann wirft sich der Mensch betend vor der Gottheit nieder, beugt sich tief, gerade so, als breche er angesichts der überweltlichen Macht in den lodernden Flammen zusammen.

O, Ihr erwählten Menschen, die Ihr Prometheus versteht, ich beschwöre Euch, werft die sichtbare Welt wieder und wieder in die heißen Lohen der Anrufungen hinein, und Ihr werdet sehen – nach ihrer allerletzten Verbrennung bleibt von der Stofflichkeit weder Rauch noch Asche! (G.Q.)

Soweit Prometheus, wie er sich zu Beginn der Darbietung zu Wort meldet. Der Mensch wird sich also irgendwann des Himmels und seiner göttlichen Abstammung bewusst – meist dann, wenn er der profanen Welt überdrüssig geworden ist. Ab diesem Zeitpunkt wird er ohne Unterlass beginnen, Gott zu suchen und ihn durch Anrufung, Gebet und Weihe verehren. Das Mysterienspiel zeigt, wie die Hauptperson Stanislaus Leblang als strebender Mensch mit der Prinzessin von Uruk als seine ihm innewohnende Seele an seiner Seite eine Wanderung durch die Weltreligionen vollzieht und Erkenntnisse sammelt. Mithilfe des nach außen gerichteten Menschen, Rudi Krautfisch, wird sehr deutlich, wie dieser Anteil aus Unkenntnis und weltverhafteter Dumpfheit jedwede religiöse Erfahrung ablehnt.

Ort des Geschehens ist eine fiktive Messe der Weltreligionen, die nacheinander vorgestellt werden. Im Rahmen dieser Messe empfängt der Zuschauer stets dieselbe Kernbotschaft einer jeden Religion, nämlich dass die Fackel des Prometheus in allen Religionen lodert. Eine dieser Botschaften gipfelt in der Fleischwerdung des Einen Gottes, seines Weges und Martyriums in der Welt. Der fleischgewordene Gott weist durch seine Inkarnation den Menschen den Weg aus dieser irdischen Welt zurück zu dem All-Einen. Sehen wir uns an, wie sich diese Botschaft mit der Einweihungstradition, also der verborgenen Tradition verwob, denn in der Einweihung geht es eben genau um dieses und nur um dieses – die Fleischwerdung Gottes im Menschen, die Inkarnation des Idioms, die Inkarnation des Einen in uns. Wer das auf seinem Weg nicht versteht, der geht ihn vergeblich. Denn was sagt uns dieser Mythos? Gott inkarniert im irdischen Menschen ganz und gar. Sei es nun wie im Christusmythos in der Geburt Gottes als Mensch oder durch die Vergöttlichung des Menschen durch die Einweihung, wie es die Gnostiker lehren – was meint: Ein Mensch wird vollständig erleuchtet und damit göttlich.

Das Dogma der Inkarnation Gottes im Menschen bleibt davon unberührt. Denn in beiden Fällen offenbart sich Gott im Menschen. So ähnlich finden wir übrigens im Hinduismus das Konzept der Avatare. Es heißt dort, dass Gott sich immer wieder auf Erden manifestiert.

Gottesinkarnationen

In der Bhagavad Gita sagt Krishna: Wann immer Dharma, also die Rechtschaffenheit abnimmt, und Adharma, das Gegenteil von Rechtschaffenheit zunimmt, inkarniert sich Gott aufs Neue. Um Dharma zu stärken und Adharma zu reduzieren, manifestiert sich Gott auf Erden immer wieder.

Im Christentum wird Gott von der Jungfrau geboren, und aus der Antike ist uns der Begriff Theotokos oder Diepara, die Gottesgebärerin, überliefert, die den göttlichen Impuls austrägt, also direkt von einem Gott geschwängert wurde.

In den Mythen der Religionen geht der Sohn Gottes, der gottähnlich ist, durch ein Martyrium, an dessen Ende der leibliche Tod steht. Das kennen wir durch Christus. Man könnte auch sagen, er wird auf dem Altar der Menschheit stellvertretend für die Menschen geopfert. In den Überlieferungen verschiedenster Kulte durchwandert der Sohn Gottes die Hölle, um nach Bestehen aller Prüfungen in den Himmel aufzufahren oder aufzuerstehen. In dem Buch »Du lebst auch im Jenseits« von Dominique Viseux werden die Anschauungen zu Tod und Auferstehung der großen Religionen und damit die jeweilige Jenseitsvorstellung anschaulich zusammengefasst. Die erlösende Botschaft liegt wie in den Hochreligionen in der Auferstehung. So bilden Religionen letztlich eine vollständige Kosmologie, weil sie das Hier und Jetzt mit dem Jenseits verbinden. Dabei steht der Mensch als physischer Mensch auf der Erde, während er mit Hilfe seiner Psyche in der Lage ist, die jenseitige Sphäre zu begreifen. Religionen und heilige Schriften versuchen, genau das zu erreichen – interpretiert durch Priester oder geweihte Meister öffnen sie die Tore zur anderen Seite. Dies wird heute allzu oft vergessen. Die Menschen leiten ein diesseitiges moralisches Konzept ab. Dafür bedarf es aber keiner Religion, hierfür sind eine gut ausgeprägte Moral und Ethik erforderlich. Umgekehrt braucht ein guter religiöser Mensch diese nicht, denn sie sind im Wesen seiner Konfession integriert.

Die jeweiligen Ausschmückungen in den heiligen Büchern wie in der Bibel, Thora, Mahabarata, dienen der Verherrlichung des Einen Gottes, der über allem steht, und letztlich finden sie ihren Ausdruck in heiligen Handlungen, die den Religionen die erhebende sakrale Kraft verleihen. Mit all ihren kultischen Ausformungen will die Religion den Weg zu Gott aufzeigen, will ihn populär, also für das Volk greifbar machen und den Menschen ganz im Sinne von religio an das Oben rückbinden. Der eingebettete Kult in den Jahreslauf und das Ritual bilden zusammen mit der schriftlichen Überlieferung das, was dem Menschen einen inneren Sinn gibt, und das, was ihn sein Selbst erkennen lässt, weswegen die kultische Tradition so wichtig ist. Reines Schriftgelehrtentum führt noch nicht zum Heil, erst durch wiederholtes Durchschreiten eines rituellen Jahreslaufes bindet sich der Mensch immer weiter an die Gottheit. Dadurch erhält er ein sogenanntes kosmisches Bewusstsein.

Was hat nun der Okkultismus oder das Okkulte damit zu tun?

Nach dem Selbstverständnis der Religion müssen wir in deren Sinne »nur« religiös sein, um die Finsternis der diesseitigen Welt zu überwinden und in das Ewige Leben einzugehen. So lautet zumindest das Rezept der Religion. Aus der Sichtweise der Okkultisten in der langen Kette der Tradition, die sehr weit in der Zeit zurückreicht, genügt es jedoch nicht, »nur« ein religiöser Mensch im herkömmlichen Sinne zu sein.

Die Schwächen der Religion erkennt man in der heutigen Zeit sehr deutlich: Die Religion kann den Menschen keine erklärbaren Konzepte mehr liefern, die einer durch Humanismus und Rationalismus geprägten äußeren Welt Konkurrenz machen könnten. Den Religionen fehlen die Erklärungen, um sich selbst den Menschen ohne Widerspruch darzulegen. Oft sind sie nicht einmal mehr in der Lage, die Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits schlüssig aufzuzeigen. Der Okkultist und der echte Esoteriker beherrschen die Kunst, passende Schlüssel zu liefern, die ein Verstehen zur Folge haben.

Okkultisten sind in ihrem Ansinnen zwar zutiefst religiös, aber ganz sicher unkonfessionell, oder besser: Sie sind in voller Bewusstheit überkonfessionell. Ein Okkultist hat gelernt, gerade wenn es um die religiöse Verehrung in den verschiedensten Kulturen geht, den Platz des neutralen Beobachters einzunehmen und seine analogen Schlüsse zu ziehen. Persönliche religiöse Ekstase oder gar Gruppenhysterie, wie man sie mitunter in prophetischen Sekten findet, sind nicht seine Sache. Ein Okkultist ist durch die Rituale der alten Einweihungstradition ein Eingeweihter geworden. Die Rituale gibt es ebenfalls seit Urzeiten, der Eingeweihte zelebriert diese in geläuterter Stille, und sie sind einzig der Erhebung an den Thron des Allerheiligsten geweiht. Dadurch dringt der Okkultist bis in die tiefen Grotten des Religiösen vor. Dafür stehen die folgenden Bilder:

Der Magier:  

Konzentration ohne Anstrengung. Er beherrscht die vierelementare Welt, erkennt die Gesetze der Naturtätigkeit, die hinter der Natur liegen. Als Initiierter ist er mit dem Oben verbunden und der Unendlichkeit geweiht.

Licht und Schatten, Mikro-/Makrokosmos:

Er hat auf seinem Einweihungsweg Licht und Schatten erfahren, und das Sein in allen Nuancen ausgelotet. Er ist sich der tiefsten unbewussten Schichten bewusst.

Der Mensch in den Himmelssphären:

Am Ende seines Weges ist er zu einem kosmischen Bewusstsein gelangt. Er durchdringt das gesamte Dasein und ist in der Lage, alle Ebenen des Seins mit Bewusstheit zu erleuchten. Er durchwandert selbst die kosmischen Sphären und hält sich bereit, bis die unermessliche Gnade des Allerhöchsten sich erbarmt und ihn den Glanz des All-Einen von Angesicht zu Angesicht erschauen lässt.

Der lateinische Begriff »occultus« heißt übersetzt »verborgen, versteckt« und bezeichnet die geheimen Wissenschaften mit deren geheimen Einweihungsriten. Der Okkultismus wird als die Lehre von den übersinnlichen Wahrnehmungen bezeichnet; er beinhaltet die Theorie und Praxis der Naturerscheinungen, deren Ursachen mit den bekannten Naturgesetzen nicht mehr erklärt werden können. Man könnte auch sagen, Okkultismus ist die Auseinandersetzung mit dem Mysterium des Menschseins und dem nicht mehr bewusst wahrnehmbaren göttlichen Ursprung. Die Bezeichnung »Okkultist« wurde erst im 19. Jahrhundert durchgängig für die Phänomene des Esoterischen benutzt und von Männern wie Éliphas Lévi und Papus geprägt. Vermutlich litten die Eingeweihten damals schon, wie heute noch, unter der falschen Verwendung des Modewortes »Esoterik«, das »nur für Eingeweihte zugänglich« oder »geheim« bedeutet. Auch heute kann man das Wort Esoterik nicht benutzen, da sofort Assoziationen wie Kräutersäckchen, Heilungssalbe, Edelsteinkraft und Engel-Dialog geweckt werden. Früher wie heute steht hinter diesem Begriff jedoch das alte überlieferte Wissen der Eingeweihten, das immer nur von Mund zu Ohr weitergeben wird. Es ist das geheime, immer streng gehütete Schatzkästchen der Weisheit. Allein dieses meint man, wenn man von dem Okkulten spricht: Es ist nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt – das letzte Wissen um die tiefen geistigen Zusammenhänge wird nie öffentlich kundgegeben, es wird einzig im Ritus zugänglich gemacht.

Für den Esoteriker ist es durchaus sinnvoll, eine Zeitlang am allgemeingültigen religiösen Leben mit all den Messen und Sakramenten teilzuhaben, jedoch muss der Weg schließlich weiter in das tiefe Verständnis der kosmischen Zusammenhänge führen. Deswegen heißt es auch, dass der Rosenkreuzer letztlich in allen Kulten zu Hause sein kann.

Der wahre Adept, der den Weg geht, folgt Christus wirklich nach. In diesem Sinne wird er durch das Leben in der materiellen Welt gekreuzigt, opfert sich im Ritus, stirbt und ersteht als Neugeborener in kosmischem Bewusstsein auf, was man auch Christus- oder Horusbewusstsein nennt. Durch die Auferstehung erschließen sich ihm die Mysterien. Er erkennt den Weg der Tradition in allen heiligen Schriften, gerade im Neuen Testament, vor allem im Evangelium des Johannes, dort wird okkultes Gedankengut deutlich mitgeteilt. Es ist derselbe Weg, wie er von den Initiierten der Jahrtausende immer wieder beschritten wurde. Hierzu gehört als erste Stufe das »Erkenne dich selbst, und du wirst die Götter erkennen«.

Origenes, der große Vorgänger des Augustinus, formulierte, dass der vollendete Christ Gott erkennen und sich mit ihm in Liebe vereinen könne. Er war ebenso ein Verfechter der Apokatastasis (d.h. Wiederherstellung der Dinge). Die Apokatastasis fordert das Heilwerden aller Geschöpfe und schließt demzufolge auch die Erlösung des Teufels mit ein. Dies meint das »Miterlösen der Schattenanteile« durch Erkennen. Das ist einer der Kernpunkte der Einweihungstradition, nämlich die Rücknahme der Projektion und das Heilwerden im Sinne von Ganzwerdung. Da bastelt man nicht mehr vordergründig an einer besseren Welt herum, sondern arbeitet an sich selbst. Diese Ansichten führten letztlich zur Verdammung des Origenes durch den Klerus von Rom, und die Kirche beraubte sich vor fast 2000 Jahren schon der einzigartigen Möglichkeit, ihren schon längst verlorengegangenen Universalismus wiederzufinden – ein Universalismus, der ein offizielles Nebeneinander von initiierenden Orden und der Staatskirche hätte erlauben können.

Gleichermaßen verbaute sich hier die noch junge katholische Kirche die Einflussnahme auf die Ideen eines Meister Eckarts oder der aufstrebenden Humanisten, Neuplatonisten und Hermetiker, wie sie tausend Jahre später in der Renaissance zum Erblühen kamen. Die Kirche als Religion hatte diesen Ideen nichts mehr entgegenzusetzen.

Das zweite große Anliegen der Einweihungstradition ist die Erfahrbarmachung der Zyklen von Sterben und Werden, ganz wie dies die christliche Tradition in ihrem Glaubensbekenntnis formuliert, und wie es uns ebenfalls aus vielen vorangegangen Religionsmythen überliefert ist. In den Initiationen der Mysterientradition wird dem Menschen die vierelementare Welt erschlossen, die er dann zu opfern lernt (Kreuzigung, Einsargung, Pfahlbindung, etc.). Der Adept erlebt das rituelle Sterben und das Neugeborenwerden. Die Initiationen offenbaren zugleich die Nähe der göttlichen Welt und die Kontinuität zwischen Leben und Tod, sie versöhnen den Eingeweihten mit der Unentrinnbarkeit des eigenen Todes, der als Übergang in eine andere Daseinsstufe begriffen wird und einen notwendigen Entwicklungsschritt darstellt.

Wenn wir uns bewusste, glückliche Menschen vorstellen, die durch Einweihung die Angst vor dem Tod verloren haben, kommen wir zu dem Schluss, dass die Welt anders aussähe, denn die modernen Instrumente der Macht besäßen keine Dominanz mehr. Die Kernbotschaften der modernen Zeit, sprich ein langes Leben, Gesundheit, Schönheit und vordergründiges Glück, würden ohne die Angst vor dem Tod den wahren Botschaften des Heiligen weichen müssen. Tasten wir uns einmal in die Antike vor und lauschen dem Satz von Pindar:

Glücklich ist,

wer der Eleusinischen Wahrheit Kenner

in die Gruft des Todes hinabsteigt.

Er kennt den Ausgang des Lebens,

kennt den von Gott verliehenen Anfang.

Lassen wir an dieser Stelle einige Philosophen aus dem antiken Griechenland zu Wort kommen; sie haben wichtige Kommentare hinterlassen, die uns eine Vorstellung davon geben, wie wir ihre eigenen Mysterienweihen einzuordnen haben. Wie Plutarch berichtet, stand auf dem Bildnis der Isis:

Ich bin alles, was war, was ist und sein wird,

und noch kein Sterblicher hat jemals meinen Schleier gehoben.

Plutarch sagt uns auch:

Nur das Unsterbliche im Menschen,

das erste beherrschende Geistwesen,

vermag den Schleier zu heben,

den die Sinne um die Wahrheit des Geistes gelegt haben.

Erkenntnis ist also nur dann möglich, wenn wir Bewusstheit über unseren geistigen Ursprung herstellen. Nur durch das Geistige vermag das Geistige erkannt zu werden; der Mensch muss also ein vom Geist Durchdrungener werden, um das Wahre in seiner ganzen Herrlichkeit erschauen zu können.

Blenden wir einmal zurück in den Myterien in den Osirismythos: Mit der Zerstücklung des Osiris durch Seth erleben wir die Zerstückelung des Geistes und das Übermächtigwerden der Materie. Die Welt ist dadurch trostlos und leer geworden, erst durch das Wiederzusammenfügen der Teile und das Aufrichten des Rückgrates aus der Waagerechten in die Senkrechte kann der Geist wieder in den Menschen einziehen. In der Mysterienweihe stirbt also der Mensch in der Welt und ersteht als ein Neugeborener wieder auf.

Plutarch sagt über den Tod in der Mysterienweihe:

Im Augenblick des Todes macht die Seele die gleiche Erfahrung wie jene, die in die großen Mysterien eingeweiht wurden. Zuerst wandert und eilt man ermüdend hin und her, und man zieht misstrauisch durch das Dunkel wie ein Uneingeweihter. Dann kommen die Schrecken vor der endgültigen Einweihung, Schauder, Erzittern, Schwitzen und Erstaunen. Daraufhin wird man von einem wundervollen Licht getroffen, man wird zu reinen Gefilden und Wiesen zugelassen, mit Stimmen und Tänzen und der Erhabenheit heiliger Laute und Formen. Derjenige, der die Mysterienweihen erhalten hat, wandert dazwischen frei herum, er ist erlöst, und seine Ehrenkrone tragend, gesellt er sich zu der göttlichen Gemeinschaft und verkehrt mit reinen und heiligen Menschen. Er erblickt auch diejenigen, die hier als Uneingeweihte leben, eine unreine Horde, von seinen eigenen Füßen getreten, zusammengedrängt in Schlamm und Dunst, so verbleiben sie in ihrem Elend, in Todesfurcht und Argwohn gegenüber den Segnungen der Eingeweihten.

Dies war sein Kommentar zu den Mysterien von Eleusis, zu deren Schlüsselerlebnissen die Bewältigung des Todes gehörte.

Und Sophokles schreibt:

Dreimal selig, ewig still beglückt, ist der Sterbliche,

der jene Weihe erblickt, ehe er zum Hades niedersteigt.

Seiner harrt dort Freude, Licht und Sieg,

ihm allein ist Sterben neues Leben,

doch den anderen wird viel Leid gegeben.

Eine Inschrift in Eleusis:

Wundervoll ist fürwahr das Mysterium,

das uns von den seligen Göttern gegeben wurde;

der Tod ist für die Sterblichen nicht länger ein Übel,

sondern ein Segen.

Mit diesen Aussagen bekommen wir einige Hinweise, was die Mysterien in der Antike erreichen wollten. Aus dieser Perspektive braucht man keine archäologischen Ausgrabungen, um zu begreifen, was in Eleusis geschah. Auch bedarf es keiner Spekulationen über den Einsatz von Drogen, die besondere Rauschzustände erzeugen, um solche Grenzerfahrungen erst möglich zu machen. Warum fällt es den Menschen heute so schwer zu glauben, wie leicht transzendente Erfahrungen in tiefer Meditation werden? Rituale sind ein Verstärker solcher Phänomene. Dem Mysterienkundigen des Abendlandes wird nach diesen Äußerungen klar, dass es sich bei den Riten von Eleusis um ein perfektioniertes Ritual handelte, das den Menschen tief in die Abgründe des eigenen Daseins schauen ließ.

Wie waren solche Rituale aufgebaut? Aus den Mysterien des alten Ägypten ist uns der Satz überliefert:

Geöffnet sind die Türen der Erde,

geheim ist dein Wandeln als Osiris!

Du bist geschützt, und Osiris ist geschützt;

auch Du triumphierst über deine Feinde,

als Untergeher für den Westen,

aber Ersteher für den Osten.

Mit diesen Hinweisen lassen sich die Rituale der Antike rekonstruieren:

  1. Der Kandidat wird von der Außenwelt getrennt, der Held verlässt seine Familie bewusst, das sind jetzt Fremde; bei Naturreligionen zieht der Novize in die Wüste oder den Dschungel, in der Einweihungstradition in eine dunkle Kammer oder er macht eine Todeserfahrung – der Schrecken der Schwelle muss erfahren werden.
  2. Es folgt eine Unterweltsreise mit allerlei Prüfungen, um den Schatten auf der Reise in die eigene dämonische Schattenwelt zu begegnen – »das bin auch ich«.
  3. Hierauf gibt es ein Auferstehungsritual: »Ich werde neugeboren«, eine besondere Erhebung, eine Art Taufe.
  4. Das Heilige, das Schöpfungsgeheimnis wird offenbart.
  5. Der Kandidat wird mit geheimen Schlüsseln nach Abgabe eines Schweigegelöbnisses entlassen.

 

Diese Elemente sind dem Menschen über Inkarnationen eingeprägt, und wenn die Seele diese wieder erfährt, erinnert sie sich. Diese Abläufe sind ein eigener Erkenntnisweg.

Die Mysterien der Antike lassen sich für den Initianden in zwei wesentlichen Grunderkenntnissen zusammenfassen: Zum einen galt es, im Leben das Sterben zu lernen, damit der Tod als ein Übergang begriffen wird und bewusste Existenz auch nach dem Tode möglich ist. Zum anderen ging es darum, das eine Ursprüngliche, aus dem alles geschaffen ist, in den Mysterien zu erfahren. Das innere Begreifen dieser Zusammenhänge wurde Vergeistigung genannt oder auch das Einziehen des Heiligen Geistes.

Zum Abschluss lassen Sie uns ein wenig den Schleier eines der größten und geheimnisvollsten Mysterien der Menschheit lüften. Gabriele Quinque hat in ihrem Buch »Tempelschlaf« das Ritual der Aufrichtung der Osiris-Mumie sehr eindrucksvoll beschrieben:

Seth und Isis schreiten jetzt nebeneinander zur Mitte des Tempels und stellen sich in unmittelbarer Nähe des Djed-Pfeilers auf. (…) Seth und Isis berühren jetzt das im Djed-Pfeiler dargestellte Rückgrat des Osiris, und die verdichtete Schwingung verstärkt sich noch wesentlich. Mit beiden Armen hebt Seth nun den Geist des Osiris wieder aus dem Grab der Formen heraus. Seth, der Widersacher selbst, hilft jetzt dem solaren Prinzip zu seiner Macht zurück. Das ist die größte Geste, die man von den typhonischen Kräften verlangen kann. Das absolut Dunkle mit den schmalen, schrägen Augen der Nacht, das Stoffliche, der Diabolos, das Salz der Erde, die kristalline Struktur wird zu einem heilenden, erweckenden Prinzip. Das ganze Geheimnis der Osiris-Schule offenbart sich hier in den beiden Händen des geläuterten Seth, die nun hilfreich die Wirbelsäule des Osiris emporheben. (…)

Mit angehaltenem Atem erleben wir in diesem Augenblick ein würdevolles Ritual im Tempel des Seth zu Abydos. (…) Der Djed-Pfeiler richtet sich langsam auf. Die waagerechte Lage des Bewusstseins wird in die senkrechte emporgezogen. Die göttliche Ordnung kann von neuem bis in die Erde durchdringen, da die Achse der Welt wieder nach oben greift. Der Sonnenlogos lebt auf, und der männliche Schöpfergeist kehrt endlich in die weibliche Welt der Formen zurück. Der emotionale Jubel der im Kult miteinander vereinigten Menschen ist äußerlich ganz still, jedoch innerseelisch gewaltig und für alle Zeiten unvergesslich.

»Heil Dir, Osiris, Bruder, Gemahl und Herr des hellen Tages, Du Sonne der Welt, Lichtimpuls der Einheit, lebe für uns und gib uns den wahren Willen der Schöpfung zurück. Befreie uns von Illusion und Halbheit und senke Dein Licht in die tiefste Mitternachtsstunde unseres Daseins, auf dass wir in Dir wieder erwachen.« Laut ruft der Oberpriester diese uralten, viele tausendmal schon von der langen Kette seiner Vorfahren gesprochenen Worte in den Tempel hinein, und alle sehen dabei auf den strahlenden, senkrecht stehenden Djed-Pfeiler. Jeder der Anwesenden erblickt jetzt den feinstofflichen Geist des Osiris, der sich zu seiner ganzen Herrlichkeit aufgerichtet hat. (…) Jeder der Anwesenden weiß es in diesem Augenblick: Zu keiner Zeit war Osiris tot. Er hat in seinem Sarkophag gelebt. Er lebte als Mumie in der Waagerechten. Und er lebt als Gott in Ewigkeit. Sein Antlitz ist von einer kühlen, unstofflichen Liebe erfüllt, die wir Menschen nicht nachvollziehen können, weshalb uns die überirdische Ausstrahlung des gewaltigen Gottes ein wenig frösteln lässt. (…)

Jetzt wissen Sie, warum es heißt: Rituale werden von Göttern gestiftet und von Menschen zelebriert. Wer einen Einweihungsweg geht (…), braucht regelmäßig wiederkehrende Rituale, um die Sprache der Seele zu erlernen.

»Osiris ist auferstanden«, so heißt es am Ende des Rituals. Der sonnenhafte Demiurg verzichtet jedoch auf seinen ihm gebührenden Platz im oberen Reich. Er steigt nicht auf einer Wolke empor, um seinen himmlischen Thron zu besteigen. Denn in der Osiris-Legende wird ein Einweihungsweg beschrieben. Isis ist eine Metapher der Mystiker, die jedem, der sich dafür öffnet, einen Raum erschließt, in dem die Psyche Gelegenheit findet, sich von Grund auf zu erneuern. Das heißt, eine echte Integration der Osiris-Handlung fädelt den Menschen wie von selbst in einen wertvollen Prozess ein. Es wird berichtet, dass Osiris sich freiwillig in das Schattenreich der Unterwelt senkt und dort selbst zu einem Therapeutikum wird. Der Gott opfert sich zugunsten der menschlichen Suche nach Vollkommenheit. Osiris verwahrt in der jenseitigen Welt alle ungetanen Reste, alle Ergänzungen der ›halben Taten‹, denen ein Erdenbürger aufgrund der Polarität nicht zu entkommen vermag, wie sehr er sich auch darum bemüht. Sein großartiger Dienst besteht darin, jedem, der ihn darum bittet, Einsicht in dessen persönliche Schattenwelt zu gewähren.

(…)

Der auferstandene Osiris senkt sich »als innere Sonne der Welt« in das jenseitige Reich, in die Nachtseite, und stiftet zwei Strömungen: den äußeren Totenkult für die profane Welt der nach außen gerichteten Menschenmasse und eine Initiatenschule für die kleine Schar der Suchenden, die in jedem Zeitraum subtilere Unterweisung begehrt.

Artikel erschienen in Pleroma Nr. 69.